In der Wakenitzstraße 8 wohnte Philipp Dilloff.
Philipp Dilloff war am 18.12.1863 in Frankenberg an der Eder geboren als jüngster Sohn des Handelsmanns Loeb Dilloff (1829-1909) und seiner Frau Fanny Frummet, geborene Theisebach (nach anderer Quelle Heilbrun / 1823-1899). Familie Dilloff gehörte zu den alteingesessenen jüdischen Familien der hessischen Kleinstadt und war weit verzweigt. Philipp Dilloff wuchs in Frankenberg mit seinen älteren Geschwistern Benedict, Friederike, Moses und Sannchen auf. Seine jüngere Schwester Ester starb mit nur zweieinhalb Jahren.
Nach seinem Schulabschluss absolvierte Philipp Dilloff das Lehrerseminar in Köln und in Büren. 1887 bewarb sich der Vierundzwanzigjährige auf eine Anzeige im „Israelit“:
„Die israelitische Elementarlehrerstelle zu Ziegenhain kommt zum 1. April d.J. durch Pensionärung des derzeitigen Stelleinhabers zur Erledigung. Das Einkommen derselben beträgt einschließlich freier Wohnung und Heizung jährlich 800 M. (Zahl unleserlich, eventuell auch 900 M.).
Bewerber werden aufgefordert ihre Meldungsgesuche unter Beifügung der Prüfungs- und Führungszeugnisse innerhalb 4 Wochen bei uns einzureichen.
Israelitisches Vorsteheramt Dr. Munk“
Philipp Dilloff bekam die Stelle als Lehrer der etwa 100 Mitglieder zählenden israelitischen Gemeinde in der hessischen Stadt Ziegenhain, die heute ein Ortsteil von Schwalmstadt ist. Fünf Jahre später heiratete er Veilchen Stern, 1871 in Salmünster geboren. Die Hochzeit fand am 31.10.1892 in Salmünster statt, und im Jahr darauf kam Tochter Elsa 1893 in Ziegenhain zur Welt. Ob Veilchen und Philipp Dilloff weitere Kinder hatten, ist nicht bekannt. Die Familie lebte im Haus der Israelitischen Gemeinde in der Kasseler Straße 28.
![]() |
Die Lehrerwohnung befand sich im Obergeschoss, Schulraum und rituelles Bad der Gemeinde waren im Erdgeschoss des 1853 gebauten Fachwerkhauses, der Betsaal mit der Frauenempore in einem großen hinteren Anbau des Gebäudes.
Bis 1908 war Philipp Dilloff als Lehrer in Ziegenhain tätig, dann übernahm er die Lehrer- und Kantorstelle in der israelitischen Gemeinde der Kleinstadt Melsungen. Die Schule und Synagoge der ebenfalls etwa 100 Mitglieder zählenden Gemeinde befand sich in der Rotenburger Straße, vermutlich war die Lehrerwohnung ebenfalls in diesem Gebäude. Hier in Melsungen unterrichtete Philipp Dilloff bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1923 um die 15 Kinder unterschiedlichen Alters in der Elementarschule. Darüber hinaus erteilte er den Religionsunterricht, dies sogar bis 1925. In einer Meldung im „Israelit“ vom 3. März 1925 heißt es: „Lehrer Dilloff, der nach seiner Pensionierung als Religionslehrer hier verblieben war, hat der Gemeinde das Amt gekündigt. Die Gemeinde wählte nun Löwenstein aus Jeßberg, …, als Lehrer und Vorsänger.“
1925 verließen Veilchen und Philipp Dilloff das hessische Städtchen und zogen in die Nähe ihrer mittlerweile verheirateten Tochter Elsa, zunächst nach Riga. In der lettischen Hauptstadt war seit 1924 ihr Schwiegersohn, der Lübecker Rechtsanwalt Ludolph Alexander (Ludwig) Häusler für den schwedischen Finanzkonzern „Stockholms Aktiebolag ut Privat“ damit beauftragt, schwedische Beteiligungen und Finanzinteressen in Riga und ganz Lettland zu vertreten. Der Enkelsohn Immanuel war 1924 in Kassel geboren; in Riga kam im Juni 1926 die kleine Mirjam zur Welt.
Sicherlich wollten Philipp und Veilchen Dilloff ihre Enkelkinder aufwachsen sehen, wollten auch Tochter und Schwiegersohn behilflich sein mit den beiden kleinen Kindern. Und gewiss bot sich so die einmalige Chance, Riga und Lettland kennen zu lernen und möglicherweise noch mehr vom Baltikum zu sehen.
1927 kam die gesamte Familie nach Lübeck und wohnte zunächst gemeinsam in der Friedrich-Wilhelm-Straße 12. Dann aber bezogen Veilchen und Philipp Dilloff eine eigene Wohnung in der Overbeckstraße 10, später in der Spillerstraße 7 und schließlich 1929 in der Kleiststraße 10.
Ihr Schwiegersohn ließ sich in der Hansestadt als Rechtsanwalt und Notar nieder und hatte zusammen mit seinem (nichtjüdischen) Kollegen Erich Oppermann bald eine gut gehende Kanzlei im Schüsselbuden 2 und später in der Sandstraße 22. Er wohnte mit seiner Frau und den beiden Kindern zunächst zwei Jahre in der Friedrich-Wilhelm-Straße 12, dann in der Schillerstraße 8 und Arndtstraße 18.
Die Eltern von Ludolph Häusler lebten ebenfalls in Lübeck. Julius Häusler, wie Philipp Dilloff Jahrgang 1863, hatte als Schneidermeister in Hamburg und Lübeck gearbeitet und wohnte nun als „Privatmann“ lange Jahre in der Moislinger Allee 59 und später An der Untertrave 11/112. Seine Frau Marjanne, geborene Simon, stammte aus Friedrichstadt. Bereits 1915 war ihre Tochter Hermine nach Schweden ausgewandert, so dass nur der Sohn mit seiner Familie in der Nähe war.
Im Juli 1931 starb Julius Häusler und im Jahr darauf Veilchen Dilloff im Mai 1932 im Alter von nur 61 Jahren. Beide wurden auf dem jüdischen Friedhof in Moisling begraben.
Die Inschrift auf der Ostseite des Grabsteins lautet (in der Übersetzung aus dem Hebräischen): "Hier ist begraben die tugendhafte, gottesfürchtige, teure, bescheidende und gerechte Frau, die Gutes tat ihr ganzes Leben, Fr. Veilchen, Tochter von Abraham, Gattin von Uri bar Jehuda Dilloff. Gestorben am Vorabend des Schabats, den 14. Ijar 5692 /20. Mai 1932/. Möge ihre Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens." Auf der Rückseite (Westseite) steht in Lateinisch: "Veilchen Dilloff, geb. Stern, geb. 5631 /erste Hälfte des Jahres 1871 oder zweite Hälfte des Jahres 1870/, gest. 5692".
Im April 1934 zogen Philipp Dilloff und seine Kinder und Enkelkinder zusammen in die Wakenitzstraße 8. Mirjam war nun acht Jahre alt, Immanuel zehn Jahre.
Beide Kinder besuchten im Schuljahr 1932 / 33 die 2. Gertrudschule in der Heinrichstraße, Mirjam die Mädchenschule und Immanuel die Knabenschule. Ob sie nach dem Umzug auch in die nahegelegene Kalandschule, wie die 1. St. Jürgenschule seit 1934 hieß, umgeschult worden sind, ist nicht klar, ebenso wenig, welche Schule Immanuel im Anschluss an die Grundschuljahre besuchte. Mirjam war danach Schülerin der Ernestinenschule.
Außerdem besuchten beide Kinder den Religionsunterricht der Israelitischen Gemeinde in der St. Annen-Straße. Auf einem Gruppenfoto ist Mirjam Häusler im Alter von etwa 8-10 Jahren zu sehen.
1933 war der Rechtsanwalt Ludolph Häusler anders als seine jüdischen Kollegen zunächst unbehelligt geblieben, er gab allerdings die Sozietät auf und verlegte sein Büro in die Breite Straße 25, Ecke Pfaffenstraße 2. 1935 jedoch musste er das Notariat aufgeben, und im Oktober 1937 sah er sich gezwungen, die Kanzlei in der Innenstadt aufzulösen und seine Arbeit von der Privatwohnung aus zu tun. Die „5. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 27. September 1938 bedeutete dann auch für ihn das endgültige Berufsverbot.
Die Familie hatte sich intensiv, aber erfolglos um eine Auswanderung bemüht; mit den nun fehlenden Einkünften sanken ihre Aussichten, irgendwo ein Visum zu bekommen und alle mit einer Flucht verbundenen Kosten tragen zu können. Am Morgen des 10. November 1938 wurde Ludolph Häusler wie die meisten der jüdischen Männer verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht. Nur drei Tage nach seiner Verhaftung wurde die Familie erneut überfallen: Zwei Gestapo-Männer erzwangen die Herausgabe des Schmucks von Elsa Häusler. Ende Dezember erklärte Elsa Häusler für sich und ihre Kinder, aber auch für ihren abwesenden Mann und den Vater die Annahme der verordneten Zwangsvornamen Sara und Israel zum 1. Januar 1939.
Ende Januar 1939 konnte Ludolph Häusler das KZ Sachsenhausen verlassen und kehrte nach Lübeck zurück. Er bewarb sich um eine Zulassung als jüdischer Rechtskonsulent, die ihm trotz der Bedenken der Gestapo erteilt wurde. Allerdings blieben seine Einkünfte verschwindend gering.
Die verzweifelten Bemühungen um eine Auswanderung der Familie blieben weiter erfolglos, aber es gelang, die beiden Kinder mit Kindertransporten nach Schweden zu retten, Immanuel im Februar 1939 und Mirjam im März. Kinderheime in Stockholm nahmen die Flüchtlingskinder auf. Von dort bemühten sich die beiden Jugendlichen mit Hilfe jüdischer Organisationen (und vielleicht auch der Schwester des Vaters), auch für die Eltern einen Weg nach Schweden zu ebnen, und so gelang zeitgleich mit dem Beginn des 2. Weltkriegs eine dramatische Flucht in letzter Minute.
Am 29. August 1939 rief der fünfzehnjährige Immanuel seine Eltern in Lübeck an und sagte ihnen, dass sie wohl eine Einreiseerlaubnis nach Schweden erhalten würden.
„Am nächsten Morgen, am Mittwoch, dem 30. 08. 1939, setzte ich mich telefonisch mit dem schwedischen Generalkonsulat in Hamburg in Verbindung, das mir bestätigte, soeben von Stockholm Anweisung erhalten zu haben, mir und meiner Ehefrau ein Einreisevisum zu erteilen, sofern gültige Pässe vorgelegt würden“, erinnerte sich Häusler.
Die Erteilung von Reisepässen für Juden erforderte im Allgemeinen einen Zeitraum von mehreren Monaten, weil eine ganze Reihe von Behörden eingeschaltet werden mussten. Es war notwendig Leumundszeugnisse einzureichen, Unbedenklichkeitsbescheinigungen des Finanzamts und der Finanzbehörden zu erbringen, die „Reichsfluchtsteuer“ und die „Sühneleistung“ zu bezahlen, Gestapo und Kriminalpolizei mussten sich zu der beabsichtigten Emigration äußern, und eine Vielzahl weiterer Behörden hatten Bescheinigungen auszustellen. „Die außenpolitische Entwicklung ließ klar erkennen, dass Krieg vor der Tür stand und wir nur noch wenige Tage für unsere Ausreise Zeit haben würden. Durch glückliche Umstände, die Hilfe und das Verständnis zuständiger Stellen in Lübeck gelang es mir, alle notwendigen Formalitäten, die sonst Monate in Anspruch nahmen, innerhalb von drei Tagen zu erledigen“, konnte Häusler später erleichtert feststellen.
Am 2. September 1939, gegen 21.00 Uhr, verließ das Ehepaar Häusler nach kaum dreistündigen hastigen Reisevorbereitungen die Hansestadt Lübeck für immer. In ständiger Angst, es könne der Krieg ihre Ausreise noch verhindern. Den gesamten Hausrat mussten sie zurücklassen. Von den ehemals fünf Lübecker jüdischen Rechtsanwälten und Notaren war Häusler der letzte, der aus seiner Heimatstadt emigrierte. „Wir führten bei unserer Abreise nach Uppsala nicht mehr mit uns, als in zwei mittelgroßen Handkoffern Platz fand. Mehr mitzunehmen war allein deswegen unmöglich, weil auch die meisten Lübecker Taxen am Abend des 2. September bereits für das Heer beschlagnahmt worden waren. Überdies hatten wir jedes einzelne Teil, das sich im Koffer befand, in eine maschinegeschriebene Liste in dreifacher Ausfertigung einzutragen. Ich fand nicht einmal Zeit, mich von meiner 85-jährigen Mutter zu verabschieden, die nach ihrer Deportation am 22. 09. 1942 in Theresienstadt verstarb“.
Wie Häuslers Mutter Marjanne blieb auch Philipp Dilloff in Lübeck zurück. Er war nun 76 Jahre alt. Die Wohnung in der Wakenitzstraße musste er verlassen. Er fand Unterschlupf in der Hüxstraße 64, dem Haus der beiden jüdischen Schwestern Margarethe und Mimi Sussmann. Als die beiden Frauen im Dezember 1941 nach Riga deportiert wurden, war er wie auch Marjanne Häusler im einstigen Altersheim der jüdischen Gemeinde in der St. Annen-Straße 11 untergebracht.
Hier erlebten die beiden alten Leute die immer schwieriger und desolater werdende Situation für die wenigen noch in Lübeck lebenden jüdischen Menschen und den Bombenangriff am 30. März 1942, der große Teile der Altstadt zerstörte.
Beide waren gezwungen, an ihrer Kleidung den gelben Stern zu tragen, der sie in der Öffentlichkeit allen gegenüber als Juden kennzeichnete.
Am 19. Juli 1942 wurden Philipp Dilloff und Marjanne Häusler zusammen mit etlichen anderen älteren Menschen aus Lübeck über Hamburg nach Theresienstadt deportiert. Mit dem Transport VI/2 kamen sie am 20.7.1942 im Ghetto an.
Ihre wenigen Besitztümer wurden vom Versteigerer Alwin Pump öffentlich versteigert; der Erlös wurde den Finanzbehörden überwiesen.
Nach zwei Monaten im Ghetto Theresienstadt kam Marjanne Häusler am 22.9.1942 im Alter von 88 Jahren ums Leben. Eine „Todesfallbenachrichtigung“ nennt „Marasmus univ. / allg. Körperschwäche“ als Todesursache, eine Folge chronischer Mangelernährung.
Am Tag nach ihrem Tod, also am 23.9.1942 wurde Philipp Dilloff nachTreblinka transportiert und dort unter nicht bekannten Umständen ermordet. Es ist anzunehmen, dass er unmittelbar nach der Ankunft in einer Gaskammer elendig sein Leben verloren hat. Er war 79 Jahre alt.
So wie in Lübeck gibt es auch in seiner Geburtsstadt Frankenberg / Eder einen Stolperstein des Künstlers Gunter Demnig für Philipp Dilloff, verlegt vor dem einstigen Wohnhaus der Familie am Pferdemarkt 3.
In Yad Vashem erinnern seit vielen Jahren Gedenkblätter an ihn und an Marjanne Häusler, ausgefüllt von ihrem Enkelsohn Immanuel. Der darauf angegebene Name Immanuel Dillon und Adressen in Haifa bzw. Ramat Gan weisen darauf hin, dass er möglicherweise von Schweden aus nach Israel gegangen war und dort einen anderen Familiennamen angenommen hatte, der Ähnlichkeit mit dem Namen seiner mütterlichen Familie aufweist.
Mirjam Häusler blieb in Schweden und wurde Genealogin in Uppsala. Zusammen mit ihrem Vater, der seinen Beruf als Rechtsanwalt und Notar in Schweden nicht ausüben konnte, betrieb sie eine Firma für genealogische Forschungen. Elsa Häusler war kurz nach Ende des Krieges in Uppsala verstorben.
Nach Lübeck ist kein Angehöriger der Familie je wieder gekommen. Ihre rechtliche Vertretung in den sogenannten Entschädigungsverfahren übernahm der Lübecker Rechtsanwalt Erich Oppermann, der einstige Sozius Ludolf Häuslers.
Verzeichnis der Quellen außerhalb der Standardfachliteratur:
- Adressbücher und Meldekartei der Hansestadt Lübeck
- Archiv der Hansestadt Lübeck, Staatliche Polizeiverwaltung 109, 110, 124, Neues Senatsarchiv, NSA 5407, Personenstandsregister der Israelitischen Gemeinde, Kreissonderhilfsausschuss 878
- Datenpool JSHD der Forschungsstelle “Juden in Schleswig-Holstein” an der Universität Flensburg
- Gedenkbuch des Bundesarchivs online
- Guttkuhn, Peter: Kleine deutsch-jüdische Geschichte in Lübeck, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Lübeck 2004
- ders.: RA und Notar L. Häusler - Flucht zu Kriegsbeginn aus Deutschland, veröffentlicht auf www.lübeck-teatime.de als Beitrag 4137
- Horst Hecker: Jüdisches Leben in Frankenberg, Korbach / Frankenberg 2011, S. 415
- Internetseite der Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum: www. alemannia-judaica.de, Informationen, Dokumente und Fotos zu Frankenberg / Eder, Ziegenhain, Melsungen, Internetseite www.erinnern-in-hessen.de
- Landesarchiv Schleswig-Holstein, Entschädigungsakten Abt. 352, Kiel, Nr. 6637, Abt. 510, Nr. 8402 und 8487
- Albrecht Schreiber, Zwischen Davidstern und Doppeladler, Illustrierte Chronik der Juden in Moisling und Lübeck, Lübeck 1992
- Stolperstein-Initiative Melsungen: Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Melsungen, www.stolpersteine-melsungen.de
- Theresienstädter Gedenkbuch, Prag 1995, www.holocaust.cz
- Übersetzung der hebräischen Inschrift auf dem Grabstein von Veilchen Dilloff durch Leonid Kogan, Jüdische Gemeinde Lübeck
- Yad Vashem, The Central Database of Shoah Victims’ Names, db.yadvashem.org
- Zeitzeugengespräche
Heidemarie Kugler-Weiemann 2013